Coming Out Simulator 2014 ist ein kanadisches Browserspiel aus dem Jahr 2014. Es handelt vom Coming-out der Spieleentwicklerin Nicky Case gegenüber ihren Eltern 2010. Das interaktive Adventure hat je nach Entscheidungen der Spieler mehrere Verläufe und Ausgänge, wobei die Ereignisse laut Case unzuverlässig wiedergegeben werden.
Coming Out Simulator 2014 | |
Entwickler | Nicky Case |
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Publisher | Itch.io |
Veröffentlichung | 1. Juli 2014 |
Plattform | Webbrowser |
Genre | Adventure, Interactive Fiction |
Spielmodus | Einzelspieler |
Steuerung | Maus |
Sprache | Englisch |
Das Spiel entstand im Zuge des Nar8 Game Jam und erschien erstmals im Juli 2014 auf Itch.io, später auch bei Newgrounds. Anfang 2015 gehörte es zu den Finalisten des Independent Games Festival.
Im Spiel wird das Coming-out der Entwicklerin Nicky Case nacherzählt. Die Handlung besteht aus Unterhaltungen von Case mit ihrem damaligen Freund Jack beziehungsweise ihren Eltern. Die Sprechblasen, mit denen die Dialoge wiedergegeben werden, ähneln Chatverläufen von IM-Diensten. Die Spieler müssen auf Aussagen der Gesprächspartner reagieren, indem sie von drei möglichen Antworten eine anklicken.[1] Je nach Wahl erfolgt eine unterschiedliche Reaktion der anderen, was den weiteren Handlungsverlauf aber kaum beeinflusst. In jeweils einer Szene vor und nach der Haupthandlung redet Case in einer fiktiven Reddit-Diskussion direkt mit den Spielern. Sie erklärt am Anfang die Spielhintergründe und präsentiert am Schluss drei Szenarien über ihr Leben nach dem Coming-out.[2]
2014 erklärt Nicky den Spielern, dass die folgenden Ereignisse neben Tatsachen auch auf Lügen und Halbwahrheiten basieren. Danach wechselt die Handlung ins Jahr 2010. Nach dem gemeinsamen Besuch einer Inception-Kinovorstellung erwähnt Nicky gegenüber seinem Freund Jack in einer Textnachricht, seine Eltern über ihr morgiges Treffen anlügen zu werden. Jack fordert ihn auf, sich ihnen gegenüber endlich zu outen. Trotz seiner Bedenken willigt Nicky ein, dies beim Abendessen zu tun, als Jack ihm gesteht, die Kommunikation per Textnachrichten, die Nicky aus Angst vor Abhörungen durch die Eltern wählt, als verletzend zu empfinden.
Beim Essen kann Nicky über seine Bisexualität schweigen, seiner Mutter subtile Hinweise darauf geben oder versuchen, sich direkt zu outen. Allerdings hört sie ihm gleich welcher Methode nicht zu, sondern lenkt das Gespräch auf seine schlechten Noten. Als er erklärt, mit Jack lernen zu werden, verbietet sie ihm weitere Treffen, da Jack schwul sei und ihn rekrutieren könnte. Nicky soll stattdessen Nachhilfestunden bei der gleichaltrigen Claire nehmen und ihr Freund werden. Die Mutter fragt Nicky dann nach seiner Sexualität, da sie heimlich die Textnachrichten gelesen hat, und erbricht sich, als Nicky ihre Frage über den Sex mit Jack beantwortet. Danach muss er ihr versprechen, dem Vater nichts von seiner Bisexualität zu sagen.
Dieser kommt kurz darauf von der Arbeit nach Hause. Wenn Nicky sich nicht outet und daneben Vorfreude auf die Nachhilfe vortäuscht, lädt ihn der Vater vergnügt in eine Inception-Vorstellung ein. Ansonsten fordert er ihn auf, die Schule zu wechseln, mit Claires Hilfe seine Noten zu verbessern und heterosexuell zu werden. Im Fall einer erneuten Weigerung schlägt der Vater ihm ins Gesicht. Danach erzählt Nicky Jack vom Streit mit seinen Eltern. Als Jack fragt, was nun aus ihnen wird, will Nicky seine Entscheidung überschlafen. In der Gegenwart erwähnt Nicky, sich drei Tage später von Jack getrennt zu haben.
Danach können die Enden der Geschichte angesehen werden. In der Lüge läuft Nicky von zuhause weg und wird in Alaska von einem bisexuellen Paar adoptiert. In der Halbwahrheit wird Claire, die ebenfalls bisexuell und ungeoutet ist, seine beste Freundin. In der Wahrheit erhält Nicky dank seiner Browserspiele ein Praktikum bei EA in der Bay Area. Er verbessert dort seine Fähigkeiten als Spieleentwickler und kann erstmals offen mit seiner Sexualität umgehen. Schließlich erklärt Nicky, dass sich seine Situation trotz der familiären Homophobie verbessert und er gewonnen habe, worauf er von seinem neuen Freund weggetragen wird. Hier endet das Spiel; in der Newgrounds-Version kann noch eine REPLAY?-Zeile angeklickt werden, allerdings reagiert Nicky darauf aus dem Off mit der Aussage, dass es im wahren Leben keine Wiederholungen gebe.
Die nichtbinäre[3] Spieleentwicklerin Nicky Case (die vor 2015[4] und deshalb auch im Spiel männliche Geschlechtspronomen verwendete[5]) kreierte Coming Out Simulator 2014 im Zuge des Nar8 Game Jam. Bei diesem wurden im Juli 2014 in einem Zeitraum von drei Wochen experimentelle Videospiele produziert. Case hatte die Idee bereits vorher, fand aber nicht den Mut, ihre persönliche Geschichte zu verarbeiten. Zudem habe sich ihre sehr schlechte Erzählkunst erst mit der Veranstaltung verbessert.[6] Sie entwickelte laut eigener Aussage den Titel hauptsächlich, um mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. Vor dem Game Jam spielte sie mental alternative, auf verschiedenen Entscheidungen basierende Versionen ihres Lebens durch.[7] Case bezeichnet Coming Out Simulator 2014 vage als „halbwahres Spiel über Halbwahrheiten“. In ihrem Blog erklärte sie, dass ihr damaliger Kinderpsychologe darin nicht vorkommt, dafür aber ihr Vater, der die Familie vor ihrem Coming-out verließ. Dieses verlegte sie von 2011 auf 2010, um Witze über Inception aus dem letzteren Jahr einzubauen.[4]
Den Quelltext schrieb Case mit JavaScript, CSS sowie Sublime Text, für die Animationen wurde Adobe Flash verwendet. Das Dialogsystem ist von den Entscheidungen der Spieler beeinflusst, so erinnert sich die Mutter an jede vorherige, selbst nebensächliche Bemerkung ihres Kindes und reagiert je nach Antwort unterschiedlich darauf. Allerdings vermeidet Coming Out Simulator 2014 für interaktive Titel übliche Abzweigungen, also völlig verschiedene Handlungsverläufe je nach Wahl der Spieler. Stattdessen wird die Handlung dadurch nur geringfügig beeinflusst, wodurch der Spielverlauf laut Case natürlicher wirke, obgleich diese kleinen Entscheidungen durchaus zu verschiedenen Ausgängen führen könnten.[1]
Die SMS-ähnlichen Sprechblasen sind sowohl eine Vorausdeutung auf die Schlüsselszene des Spiels[1] als auch eine Metapher auf Cases damalige, reale Gespräche mit ihren Eltern. Diese seien wie die Kommunikation per Textnachrichten voll von Missverständnissen und unpersönlich gewesen.[8] Die relativ einfachen Zeichnungen in den Spielszenen imitierten den Minimalismus moderner Benutzerschnittstellen, jedoch war dies nicht der einzige Grund der fehlenden Gesichter. Die Textnachrichten, das unzuverlässige Erzählen und die gesichtslosen Figuren seien Cases Versuch gewesen, eine persönliche Geschichte so unpersönlich wie möglich zu erzählen.[1]
Die verschiedenen Antwortmöglichkeiten sollen die Spieler den Stress schwieriger Entscheidungsfindungen nachempfinden lassen,[8] da sie vor ihrer endgültigen Wahl über deren Konsequenzen genau nachdenken müssten.[6] Die Spielmechanik der jeweils drei Optionen stehe daneben für ein universelles Problem, das laut Cases nicht nur queere, sondern generell Personen betreffe, die ihr Anderssein geheim halten, beispielsweise solche mit einem anderen Glauben als der Rest ihrer Familie. Das Hauptthema in Coming Out Simulator 2014 sei die belastende Wahl zwischen dem offenen Umgang mit der wahren Persönlichkeit und der Befriedigung des familiären Umfelds durch Lügen.[7] Deswegen habe das Spiel auch die drei Enden, da es von der Navigation zwischen für die Alltagsbewältigung benötigten Lügen, Halbwahrheiten und dem Verlangen nach persönlicher Entfaltung durch die Wahrheit handle.[6]
Case nannte mehrere Vorbilder für Coming Out Simulator 2014. Eine wichtige Inspiration war dys4ia, ein Browserspiel der trans Entwicklerin Anna Anthropy. Dieses erzählt in vier Leveln deren geschlechtsangleichende Maßnahme nach. Zwei weitere Titel, die Case beeinflussten, waren Gone Home mit seiner queeren Hauptfigur sowie The Walking Dead. Letzteres Spiel stellte mit seinem interaktiven Dialogsystem, das bei den Spielern große Furcht vor der Tragweite ihrer Entscheidungen auslöse, eine große Inspiration für das Gameplay von Coming Out Simulator 2014 dar. Zudem sei es eine großartige Repräsentation von Minderheiten, unter anderem dank einer afroamerikanischen Protagonistin und einer psychisch behinderten Hauptfigur.[6]
Coming Out Simulator 2014 wurde erstmals innerhalb des Nar8 Game Jam im Juli 2014 auf Itch.io veröffentlicht.[9] Das Spiel ist zudem auf Cases Webseite abrufbar[10] und erschien am 14. Februar 2015 auf Newgrounds.[11] Daneben steht der Quelltext gemeinfrei[12] als Open Source zur Verfügung.[13]
Die Teilnehmer der JCGS, einer internationalen Konferenz, auf der Serious Games wissenschaftlich analysiert werden, kamen bei ihrer Tagung 2021 an der Staffordshire University zum Schluss, dass Coming Out Simulator 2014 eine gute Inspiration für andere Titel des Genres darstelle. Durch die Erkundung verschiedener, sowohl bei einem Coming-out als auch bei der Leugnung der eigenen Sexualität verspürter Emotionen wie Angst oder Einsamkeit und schließlich der Akzeptanz der persönlichen Sexualität beweise das Spiel, dass auch kurze Videospiel-Handlungen einen großen emotionalen Effekt haben können. Coming Out Simulator 2014 habe ansprechende, aber minimalistische visuelle Effekte, eine durch kurze Sätze erzählte Geschichte und einen nur begrenzten Einfluss der Spieler. Diese Elemente könnten Vorbilder für Entwickler von Serious Games sein, vor allem solche mit geringem finanziellem und zeitlichem Budget.[14]
Innerhalb der Buchreihe Translational Systems Sciences von Springer wurde unter anderem anhand von Coming Out Simulator 2014 der Begriff Serious Game analysiert. Ein solches solle laut gängiger Definition sowohl unterhalten als auch einen anderen positiven Effekt auf die Spielenden haben, meistens einen Lerneffekt, der zur Lösung realer Problematiken beiträgt. Coming Out Simulator 2014 habe einen sehr fließenden, aufregenden Gesprächsverlauf und eine gute Darstellung der Gefühlswelt der Figuren. Daneben zeige es auf, dass gesellschaftliche Normalität nicht nur positive Auswirkungen habe, sondern auch Personengruppen diskriminiert, wenn sie Formen wie Heterosexismus, hegemoniale Männlichkeit oder Homophobie annimmt. Titel, die soziale Normen als unnatürlich darstellen, unterhielten die Spieler nicht nur, sondern regten sie auch an, sich über die dargestellte Thematik Gedanken zu machen. Coming Out Simulator 2014 sei zwar kein typisches Serious Game, da nicht nur die Vorteile eines Coming-out porträtiert würden und das Spiel keine direkten Lösungen zur dargestellten gesellschaftlichen Problematik präsentiere. Allerdings erlaube es den Spielern, selbst zu erfahren, wie sich normale Moralvorstellungen zu gewalttätiger Diskriminierung anderer entwickeln können. Auch zeige es auf, dass in der Gesellschaft verschiedene Lebensformen zwar akzeptiert werden, sexuelle Minderheiten dafür aber als Problem angesehen werden, da sie nicht mit der Norm übereinstimmen. Der Titel trage deswegen zur Reflexion über für die Mehrheit unsichtbare Aspekte gesellschaftlicher Normen sowie Moralvorstellungen bei und könne daher als Serious Game eingestuft werden.[15]
Yannick LeJacq schrieb für Kotaku, dass Coming Out Simulator 2014 mutiger als viele Mainstream-Titel sei. Es brauche Spiele, die die unangenehmen, oft verletzenden Erfahrungen queerer Personen darstellen. Coming Out Simulator 2014 sei unbequem, aber nötig, vor allem für heterosexuelle Spieler.[16] Jeffrey Matulef beschrieb das Spiel im Eurogamer als unerträglich detailliert. Es bilde die Erfahrungen frustrierter Kinder mit verständnislosen Eltern authentisch ab. Abgesehen von der letzten Café-Szene, die zu sehr von der Spielwelt ablenke, sei der Titel einen Versuch wert.[17] Für Danielle Riendau von Polygon zeichne das Spiel humorvoll und zugleich brutal ehrlich ein präzises Bild der Bedeutsamkeit und Schwierigkeit eines Coming-outs.[18] Laut Cassandra Khaw von The Verge sei er ein sowohl erschütternder als auch ergreifender Titel mit einer geistreichen Karikatur als Protagonistin.[19] Georg Pichler bezeichnete Coming Out Simulator 2014 für Der Standard als gelungenes, nachdenklich machendes Porträt aller, die Erwartungsdruck eines konservativen Umfelds ausgesetzt sind.[12] Die Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung nahm den Titel in ihre Liste der Spielempfehlungen für politische Bildungsarbeit auf. Case habe mit Coming Out Simulator 2014 ein zutiefst eindrucksvolles Spiel über sexuelle Identität sowie gesellschaftliche Zwänge und Erwartungen geschaffen.[20]
2019 erklärte Case in einem Interview, Coming Out Simulator 2014 rückblickend mit gemischten Gefühlen zu betrachten. Sie bereue, dass sich das Spiel nicht an queere Personen richte, sondern ein „Empathie-Erweckungs-Titel für Heterosexuelle“ sei. Zudem sei der Begriff Simulator irreführend, da es nur um ihr persönliches Coming-out geht, weswegen sich das Spiel diesbezüglich nicht als Ratgeber eigne. Auch wird die Spielfigur mit männlichen Pronomen bezeichnet, was aufgrund Cases Identifikation als nichtbinär nicht mehr aktuell sei. Allerdings sei sie dennoch stolz auf das Spiel, da es, basierend auf zahlreichen ihr zugesendeten Nachrichten queerer Jugendlicher, diesen eine große Hilfe bei der Selbstakzeptanz war.[5]
Coming Out Simulator 2014 war beim Nar8 Game Jam siegreich.[21] 2015 gehörte es zu den Finalisten des Independent Games Festival in der Kategorie Excellence in Narrative,[22] musste sich aber 80 Days geschlagen geben.[23]